Physiognomie und Kunst

Künstlerisches Schaffen und Menschsein

Auguste Rodin und die Moderne weisen auf eine neue Zukunft hin.
Paul Schärer / Lukas F. Simon

Kunstwerke sind Aussagen über die innere Welt der Künstler, die aus sich heraus schaffen. Sie geben Einblicke in Bewusstes und Unbewusstes, in Gedanken und Gefühle, in das Empfinden des Künstlers und sein Verständnis der Zeit, in welcher er lebt. Künstler möchten aufrütteln, provozieren und zum Denken anregen. Manchmal scheint es sogar, wie wenn sie, unbewusst, gesellschaftliche Veränderungen vorausahnen könnten.

Die Bürger von Calais, von Auguste Rodin, im Hofe vom Kunstmuseum Basel.
Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum. Foto Paul Schärer.
Das Werk wurde 1948 aus dem Legat Prof. Rudolf Handmann-Horner, dem Lotterie-Fonds, mit privaten Beiträgen und mit Mitteln aus dem Meister-Fonds erworben.
Vier Exemplare des Werkes wurden zu Lebzeiten von Rodin gegossen.

Das Werk stellt eine Gruppe von Männer dar, die sich, im 100-jährigen Erbfolgekrieg um Frankreichs Königreich, 1347 freiwillig an die britischen Belagerer unter König Eduard III. auslieferten. Sie waren bereit sich zu opfern, ihr Leben hinzugeben, um die belagerte Stadt vor der totalen Zerstörung und die Bewohner vor dem Hungertod zu retten. Die Opferwilligen sollten sich barfuss und barhäuptig, nur mit einem Hemd bekleidet, den Henkerstrick um den Hals und den Schlüssel zur Stadt in der Hand, bei den Engländer einfinden. Rodin hat den Moment festgehalten, als sich die Bürger vom Marktplatz in Richtung Feind in Bewegung setzen. Die Ausdruckskraft der Formen ist tief beeindruckend und ergreifend. Die Figuren zeigen das Leid das sie bewegt, ihre blutenden Herzen, ihre Leiden und Sorgen, ihren Kummer und ihre Klagen. Gleichzeitig erkennen wir menschliche Grösse. 1884 begannen die ersten Studien zu diesem Werk, 1884 erfolgte der Auftrag, 1895 wurde das Denkmal in Calais enhüllt.
Auguste Rodin, 1840 -1917, ist als Autodidakt zu betrachten. Von der "Kaiserlichen Schule für Kunst" abgelehnt, hat er Kunst selber entdeckt. Er hat sich dabei weitgehend am Menschen orientiert und fragte: "Was ist er, was will er, was kann er, was soll er." Bei dem Werk Bürger von Calais kommt diese wirklichkeitsnahe Betrachtungsweise an jedem der Dargestellten zum Vorschein. Jede Form macht die nach aussen drängende, innere seelische Energie sichtbar. Rodin sagte: "Das Auge des Künstlers, in engster Verbundenheit mit seinem Herzen dringt tief in den Schoss der Natur ein."

Der programmierte Mensch
Unsere Handlungen gehen von einer individuellen, von beiden Eltern bei der Zeugung gleichwertig übertragenen Genstruktur aus, dem Genotypus. Durch die Vererbung entsteht eine unendliche Vielfalt des Menschseins, denn jede Genstruktur ist neu, individuell, einzigartig. Der bekannte Erziehungsforscher Professor Remo H. Largo hat in einer dreissigjährigen Langzeitstudie an Kindern und Jugendlichen herausgefunden, dass wir als Einzelne sehr genau definiert sind, unter einander aber extrem verschiedenartig erscheinen. Während der individuellen Entwicklung sei eine erstaunliche Stabilität der Anlagen und Talente vorhanden. Diese zwingenden genetischen Lebensmöglichkeiten werden durch Erziehung und Bildung erweitert oder vermindert und immer auch in eine bestimmte Richtung gelenkt. Dem Fundus der daraus entstehenden Möglichkeiten entspringt eine unterschiedliche Verarbeitung von Ausseneinflüssen. Es entsteht eine wesenseigene Sicht der Welt, die zu differenzierten, individuellen Reaktionen führt. Auch die dargestellten Männer sind von verschiedener Herkunft geprägt und von unterschiedlichen Gemüts- und Gefühlszuständen erfüllt. Aussergewöhnliches Sehen und eine gewaltige künstlerische Gestaltungskraft, ermöglichten es Rodin meisterhaft, die verschiedenen Charakteren, die differenzierte Verarbeitung ihres Schicksals und den damit ausgelösten inneren Zustand, sichtbar zu machen.

Weisheit adelt den Menschen

Ausgemergelt, dem Tod geweiht, schreitet die Gruppe dem Feind entgegen. Eustache de Saint-Pierre bildet den Mittelpunkt. Eine grosse Gestalt, von Hunger und Entbehrungen gezeichnet, mit einem achtungsgebietenden Gesicht, das Ruhe und Würde ausstrahlt. Aus physiognomischer Sicht zeigt sich an der breiten, hoch aufgebauten Stirn die Anlage zu umfassendem Denken, an der markanten Plastik der Stirnecken der ausgeprägte Sinn für Ordnung und Organisation. Die Gedanken werden entsprechend umspannend und systematisch aufgebaut. Die lange kräftige Nase lässt erkennen, dass er Probleme planmässig bearbeitet. Improvisation dagegen ist seine Schwäche. Sein Vorgehen ist gradlinig und gründlich. Auf ihn kann man sich auch in schwierigen Situationen unbedingt verlassen. Er war wohl auch aus diesen Gründen bei seinen Mitbürgern sehr beliebt. Wenn wir das Gesicht, mit den grossen Augen, dem feinen Mundzug und der schlichten Barttracht ruhig auf uns wirken lassen, erkennen wir einen ausgereiften Charakter, ein aus Anlage und Entwicklung erfahrenen, abgeklärten, weisen Menschen. Die ausgeprägten Backenknochen lassen erkennen, dass er imstande ist, innerlich stark und unbeirrt von äusseren Einflüssen, seinen als richtig erkannten Weg zu gehen. Er hat sich zum Opfer entschieden und geht nun diesen Weg als Vorbild, in Ruhe und Würde, aber gesenkten Hauptes, in tiefer Traurigkeit. Rodin hat einen weisen Menschen dargestellt, der seiner Ansicht nach nur so aussehen kann. Eustach war der reichste Mann von Calais. Sein Talent und sein damit erarbeitetes Wissen hat er jedoch nicht nur eingesetzt um reich zu werden. Es erfüllte ihn auch die Pflicht des Wissenden, sich für seine Mitbürger, die weniger wissend sind, hinzugeben. Damit hat er die weiteren Patrizier zur Einsicht bringen können, dass das Opfer unvermeidlich ist und sie mitgerissen.

Weise Menschen schauen uns an
In vielen Kunstwerken finden wir ein ähnliches Aussehen von Weisen wie beim Eustach von Rodin. Künstler machen sich mit ihrem Vorstellungsvermögen Gedanken darüber, wie ein solcher Mensch aussehen könnte. Bruder Klaus wird in ähnlicher Art wie Rodins Eustach dargestellt. Auch das - allerdings umstrittene - Totentuch von Jesus zeigt vergleichbare Formen.

 

In meinem Buch "Ketten sprengen" sind, von der Kunstmalerin Susan Csomorden, der real und sachlich denkenden Forscher und der Weise dargestellt. Diese zwei Bilder sind hier farbig wiedergegeben.
Das erste zeigt der "Astronom" Es ist der Intellekt ohne Seele ausgedrückt im kühlen Blau, einem wild strukturierten Universum und einem Gesicht mit einem kühlen, suchenden, nicht zufriedenen Gesichtsausdruck.

 

 

Das zweiter Bild "Das Buch" zeigt einen dem Eustach ähnlichen Kopf. Was die malende Künstlerin zudem noch dargestellt hat, ist die zweifellos nötige Verbindung mit einer seelisch-geistigen, transzendenten Dimension, die hier als eine von oben kommende, leuchtende Kraft erscheint. Ohne diese Dimension kann auch sehr umfassendes Wissen nicht zur Weisheit werden. Das Gesicht zeigt die innere Zufriedenheit des wissenden und liebende Menschen.

 

Weisheit ist Wissen, gepaart mit Liebe.

 

Im täglichen Leben erkennen wir Weisheit physiognomisch in einer wie von innen durchleuchteten, ausgeglichenen Form, die nicht immer so aussieht wie die von Künstlern gezeigte. Betrachten wir solche Menschen

Hildegard Hamm-Brücher, Seyed Mohammed Khatami, Dr. Alex Krauer, Professor Dr. Werner Arber

Bei Hildegard Hamm-Brücher sehen wir dieses innere Leuchten bei einer ausgewogenen Form. Sie ist, nach ihren Taten und ihrem Äusseren beurteilt, eine weise Person. Auch den iranische Parteipräsident Seyed Mohammad Khatami können wir, aufgrund seiner ausglichenen Formen, als weisen Menschen betrachten. Diese Anlage und Entwicklung sehen wir auch bei zwei Basler Persönlichkeiten: dem aus der Chemischen Industrie stammenden Manager Alex Krauer, sowie beim Naturwissenschaftler, Genforscher und Nobelpreisträger Professor Werner Arber.
Alex Krauer
hat eine feine Formenstruktur, und die lange Nase des planenden Menschen. Der Mund lässt differenzierte Gefühle erkennen, das quellende Mittelgesicht die Kommunikationsfähigkeit und warme Gefühle und der für einen Manager nicht selbstverständliche, väterliche, aber bestimmte Blick, seine Liebe für alles Leben, aber auch eine konsequente Haltung. Krauer hat mit seiner grossen geistigen Kraft ein umfassendes Wissen erarbeitet und ist damit zu Wohlstand gekommen. Sein Wissen hat er immer wieder zu Gunsten der weniger Wissenden eingesetzt. Damit wurden diese zu Leistungen angespornt, die zuletzt zur eigenen Befriedigung und Entwicklung führt. Werner Arber überzeugt mit gleichmässigen, feinen und ausgeprägten Formen sowie dem Ausdruck seiner Augen. Er sammelte eine andere Art fachliches Wissen, als der Industrie-Manager. Das darüber Hinausgehende war ähnlich. Immer ist es sein Anliegen, dieses immense Wissen kritisch hinterfragen zu lassen und ohne jeglichen Fundamentalismus dazu beizutragen, ein globales, Fakultäten übergreifendes Denken zu unterstützen und zu fördern. Er gibt mehr als das von ihm Verlangte.
Weise Menschen sind in der Politik, in der Industrie, in der Wissenschaft aber auch im sogenannten einfachen Volk vorhanden. Es sind auf ihrem Niveau universal denkende Menschen, die wahren Lords einer Nation. Weise lösen den Konflikt zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen auf friedliche Weise. Sie sind nicht nur für Künstleraugen in ihrem Äusseren und ihrer Lebensweise erkennbar. Viele von uns könnten solche erkennen, durch physiognomisch und künstlerisch geschultes Sehen und geeignete Informationen über ihre Werke. Mit solchen Menschen als Vorbilder und Gesetzgeber, eingebettet in eine demokratische Staatsform, könnte eine bessere Zukunft gebaut werden.
Gehen wir wieder zu Rodin zurück. Trotz seiner Weisheit war Eustach nicht in der Lage, das von den Engländern ausgegangene Unheil zu verhindern. Er wurde wohl zu spät eingesetzt. Weise Menschen sollten in den Verhandlungsdelegationen Einsitz nehmen können, bevor ein Krieg beginnt. Dann besteht die Chance, dass sie Lösungen finden, die den Frieden erhalten und möglichst vielen Mensch dienen. Weise Menschen sind tolerant, Fundamentalismus ist, trotz grosser Unbeirrbarkeit und trotz einer bestimmten Prägung durch Gene, Erziehung und Bildung, kein Thema für sie. Sie vermögen Grenzen des Menschseins zu erkennen und leisten Überzeugungsarbeit durch Vernunft. Der Philosoph Otfried Höffe bezeichnet vernünftige Menschen als die einzige Möglichkeit, die immer wieder von Gott erwartet und nie eingetroffene Hilfe zu bekommen. Weise sind die vernünftigen Menschen. Sie sind in jeder Rasse, jeder Weltanschauung, auf jedem Niveau vorhanden. Es scheint, dass der weise Mensch das richtige Instrument und möglicherweise auch das einzige ist, um das Höchste in unserem Sein, die Liebe, exakt auszuloten.

Der Ausdruck der Seele

Betrachten wir die Darstellung der weiteren Todeskandidaten im Werk von Rodin. Jean de Fiennes ist der jüngste der Männer. Er schaut seitwärts, hat die Hände geöffnet und versucht mit dem Nachbarn zu sprechen. "Ist das nun wirklich die letzte Lösung?" scheint er zu Fragen. Im Gegensatz zu Eustache de Saint Pierre hätte er sein Leben noch vor sich. Seine Züge sind noch wenig vom Schicksal gezeichnet. Von der Anlage her ist er der Typ des Wissenschaftlers, der alles ganz genau analysieren möchte. Seine feinen Formen zeigen, dass er sehr empfindungsreich ist.

Er trägt damit die Anlage in sich, später ebenfalls zu einem Weisen zu werden. Anscheinend glaubt er immer noch, mit seinen guten Argumenten und seinem Wissen überzeugen zu können, obwohl die Würfel gefallen sind und der Gegner seinen theoretischen Argumenten nicht mehr zugänglich ist. Er sträubt sich mit ganzer Seele gegen sein Schicksal und versucht seinen Nebenmann, Jacques de Wissant, mit Argumenten zu überzeugen

Doch dieser wendet sich von ihm ab und sagt mit seinem Ausdruck: "Was nützt denn deine exakte Beweisführung? All dies ist jetzt doch sinnlos." Die Mundwinkel sind, Pessimismus zeigend, nach unten gezogen, die Unterlippen fragend nach vorne geschoben. Dies zeigt die tiefe Hoffnungslosigkeit von dem dieser Mann ergriffen ist. Er stützt sich mit der rechten Hand auf den Rücken des Weisen. Ihm will er folgen.

 

 

Bei allen Männern nimmt jede Körperzelle Anteil am inneren Geschehen. Alle Formen partizipieren deshalb am Ausdruck des seelisch-geistigen Momentanzustandes, auch der Rücken. Der des aufbegehrenden Fiennes ist nicht gebeugt und zeigt dadurch, dass die Hoffnung dieses jungen Mannes noch nicht verloren ist. Bei de Wissant ist alles hängend und entspricht der Mimik, die den Ausdruck der Zwecklosigkeit zeigt. Der Rücken vom Weisen de Saint-Pierre, der sich gottergeben in sein Schicksal fügt, zeigt etwas von der Würde mit der dieses getragen wird. Der Rücken von Andrieus d’Andres hingegen drückt tiefste Verzweiflung aus.

Er hat seine Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Der Mann rauft sich verzweifelt die Haare und möchte wohl seinen Entschluss, sich freiwillig gemeldet zu haben, am liebsten rückgängig machen. Vor ihm geht Jean d‘Aire der sich mit aller Kraft gegen sein Schicksal sträubt. Er hat sich noch nicht ergeben. Stolz und ungebeugt will er seinem Feind entgegentreten. Es brennen flammende Augen in den eingefallenen Augenhöhlen.

Jean d'Aire

Das Kinn und die Unterlippe drängen nach vorn. Die Nasenflügel sind angespannt. An Kopf und Körper spiegelt sich ein enormer Widerstand. Es ist das Willensnaturell mit einer ausgezeichneten Erfassungsfähigkeit für die Realitäten des Lebens. Gefühle werden zurückgedrängt. Der Mann ist wohl gewohnt zu herrschen und zu befehlen. Aber hier bleibt er mit seiner Willensenergie allein, die Gruppe folgt dem weisen alten Mann und setzt sich in Richtung Feind in Bewegung. In einer Vorstudie hat Rodin diesen Mann nackt modelliert. Da zeigt sich die abwehrende Haltung noch deutlicher. Jede Faser des Körpers ist angespannt und drückt äussersten Widerstand aus. So etwa sah der amerikanische Präsident Georg W. Bush aus, als er kampfbereit und emotional, den bedingungslosen, aber auch erbarmungslosen Krieg gegen den Terrorismus verkündete. Mit dieser Haltung allein ist aber das Problem nicht zu lösen. Es fehlt die Weisheit. An den Formen des Trotzigen kommen kämpferische Kräfte zum Ausdruck. Es ist die aus Anlage und Entwicklung gewordene Überzeugung, mit hartem Widerstand und Kraft Lösungen zu suchen, wenn nötig durch Gewalt Lösungen zu erzwingen. Daraus entsteht das Denken in Freund-Fein-Kategorien und die Verherrlichung der Gewalt.

Vorstudie von Rodin

Hinter der Vorstudie des Jean d’Aire von Rodin, sehen wir einen weiblichen Akt von Aristid Maillol. Der Formcharakter ist fein, rund, ausgewogen. Maillol bringt damit eine friedliche Energie zum Ausdruck. Menschen die damit gesegnet sind, überzeugen durch liebendes Eingehen auf Probleme. - War wohl die Gattin von König Eduard III. eine solche Frau?

 

 

 

Pierre der Wissant Auch der sechste Bürger, Pierre de Wissant, hat resigniert. Die Gestik der Hände und der Gesichtsausdruck erscheinen wie ein ungläubiger Schrei in die Welt: "Ist denn so etwas möglich." Die Darstellung bringt, in einer kaum zu überbietende Dramatik, zum Ausdruck, wie innere Energien bis in die Extremitäten ausstrahlen und sichtbar werden.

Denkanstösse durch die Kunst
Künstler machen uns, vielfach unbewusst, auf gesetzmässige Lebensabläufe aufmerksam. Manche von ihnen sind durch ihre Arbeit Weise geworden, andere sind dauernd Suchende, wie zum Beispiel der Schweizer Alberto Giacometti. Er wälzte den Stein wie Sisyphos und blieb suchend bis zu seinem Tod. Er ist mit diesem Suchen einer unter Millionen.
Anlage und Bildung sowie der seit Jahrtausenden durch Menschen erzeugte Zeitgeist, regen Künstler zum Gestalten von Allgemeingültigem an. Suchen wir Spuren davon.
Der Tod, unser aller Wegbegleiter
Das Henkerseil, das jeder der sich opfernden Bürger bei Rodin trägt, ist ein Attribut des unmittelbar bevorstehenden Todes. Wir alle gehen auf unserem Lebensweg dem Tod entgegen. Immer wieder treffen wir auf mögliche Feinde, sei dies in Form von Krankheiten, Unglück, oder schlecht gesinnten Menschen. Jeder verarbeitet solche zum Schicksal gewordenen Umstände individuell, so wie dies Rodin bei den Bürgern von Calais darstellte. Aber der Tod ist unausweichlich. wie können ihm nur einen Sinn zuweisen, wenn wir an ein Weiterleben und an eine dauernde Weiterentwicklung in der geistigen Welt glauben. Nur Eustach de Saint-Pierre geht in dieser Gruppe dem Tod gefasst entgegen.
Die Suche nach dem eigenen Ich
In dem von Rodin geschaffenen Werk schreitet der Weise Eustach de St. Pierre als zentrale Figur dem scheinbar Unausweichlichen entgegen. Aus Weisheit bringt er ein Opfer, eine auf alles verzichtende, höchste Hingabe. Nur damit ist seine geliebte Stadt vor der Zerstörung und die Menschen vom gewaltsamen Tod zu retten. Er gab sich als erster hin, wurde Vorbild für seine Begleiter, die er damit anregte ihm zu folgen um sich ebenfalls für die Stadt hinzugeben. Entgegen dem Wunsch seiner Auftraggeber hat Rodin darauf bestanden allen sechs Patriziern zu gedenken, denn sie folgten dem Weisen und wurden dadurch wieder zu Vorbildern für alle Bürger. Nicht immer folgen wir den Ideen weiser Menschen. Ja solche werden ausgegrenzt wie etwa der Reformer Michail Gorbatschow. Vielfach sind Weise zu wenig gerissen und glauben noch nicht, dass andere aus Anlage kriminelle Potentiale besitzen und gerissen sind. Vielfach schliessen sie von ihrem Wesen ausgehend auf das Wesen Anderer.
Rodin meint dazu: "Die Welt wird erst glücklich sein, wenn alle Menschen Künstlerseelen besitzen, das heißt, wenn sie ihre Arbeit mit Liebe und Hingabe tun."
Kunst wird plötzlich zu einer Richtlinie.
Dass viele Menschen Künstlerseelen haben, die sie ohne es zu wissen auch verwirklichen, zeigt folgender Gedankengang. Wenn wir Künstlerseelen hätten, könnten wir zu uns selber kommen. Der Künstler schenkt uns mit seiner Seele etwas. Es ist sein Weg, anderen in Liebe, Freude und Hingabe etwas geben. Das ist eine Lebenssituation der wir ständig begegnen, ohne weiter darüber nachzudenken. Jeder von uns gibt sich zum Beispiel in Liebe seiner Arbeit hin. Er schafft damit in irgend einer Form etwas für andere. Er gibt dank seinen Talenten und den erworbenen fachlichen Fähigkeiten sich und der Allgemeinheit etwas und bereichert so sein und anderer Leben. Dadurch, dass er mit seiner Arbeit seinen Nächsten etwas gibt, verwirklicht er mit seiner Künstlerseele sich selber. Eustach de Saint-Pierre wurde durch seine Fähigkeiten mit denen er erfolgreich arbeitete, äusserlich und innerlich reich, kam zu sich selber, wurde weise. Durch Tätigkeiten unterschiedlichster Art kommt jeder Arbeitende zu sich selber. Dies erst recht, wenn er in der Lage ist sie mit Freude auszuführen. Hier liegt der Segen der Arbeit. Dieses Tun lässt mit den Jahren eine gewisse Weisheit entstehen. Die Hingabe für sich und die Allgemeinheit war sinnvoll. Damit erreicht der Arbeitende innere Zufriedenheit, er hat sich durch seine Hingabe selber verwirklicht und erreichte damit sein eigenes Ich. Wenn Arbeit ein Mittel ist, um zu sich selber zu kommen, so kann daraus gefolgert werden, dass Arbeiten ein Menschenrecht ist. Dieses Recht ist am besten in einer Demokratie zu verwirklichen und in weiser Zusammenarbeit von Wissenschaftler, Unternehmer, Arbeitnehmer und Politiker.
Die Bekämpfung unserer Feinde
Eustach und seine Begleiter treffen bei dem Tun für ihre Stadt auf einen Menschen, der den Heldenmut durch Freiheit belohnt. Der englische König Eduard III. wollte allerdings zu Beginn mit seiner Forderung die Köpfe eines allfälligen Widerstandes eliminieren. Deshalb sollten sich hochstehende Bürger opfern. Das ist eine noch heute übliche Waffe gegen angebliche Feinde, wie das Beispiel der Auseinandersetzungen in den vergangene und vorhandenen Kriegen zeigt. Das ist Machiavellismus
Trotzdem seine Berater König Eduard III. von der Tötung abhalten wollten, blieb er zuerst bei seiner harten Meinung. Doch dann hörte er die demütige Bitte seiner schwangeren Frau. Sie bat ihn auf den Knien, die Gefangenen freizulassen.
Weibliche Wesensart trägt in sich das Verzeihen. Neun Monate hütet die Mutter in ihrem Leib das mit ihrem Partner gezeugte Leben. Sie durchläuft in dieser Zeit eine natürliche Schulung, welche die Bereitschaft zum Schutz des Lebens fördert. Klug ist, wer auf solche Frauen zu hören vermag. Eduard III. liess sich überzeugen und erreichte damit vernünftiges Handeln.
Nicht immer treffen wir auf einen vernünftig gewordenen Feind. Es könnte nach aktuellstem Stand der Dinge, ein unbelehrbarer Fundamentalist oder gar ein Terrorist sein. Wir müssen uns gegen solche Feinde schützen. Viele Wege werden heute diskutiert. Einer ist Gewalt, wie er von Eduard III. vorgesehen war, was heute zu absolutem Schutz durch Überwachung führt. Eine Meinung, wie weit wir bei letzterem gehen dürfen, gab uns -völlig unbewusst-, das Künstlerehepaar Christo und Jeanne Claude, die in Riehen bei Basel Bäume einkleideten. Dieses Werk wurde bewundert und bestaunt. Die Bäume hatten in der Sonne oder im Mondschein so schön ausgesehen. Ein besonderes Erlebnis. Viele bestaunten auch die komplizierte technische Planung und Durchführung. Einige der Betrachter mögen gedacht haben: "Was sagen wohl die Bäume dazu? Ein Weiterleben ist den Bäumen so unmöglich." Sie wurden dann, wie geplant, wieder von der totalen Einkleidung befreit. Dieses Happening hat in beklemmender Art auf die Wirkung von Abschirmungen aufmerksam gemacht. Uns beschlichen bei der Vorstellung, dass wir selber so eingepackt werden könnten, Gefühle einer tiefen Ohnmacht. Diese mahnende Seite der Einkleidung wurde kaum beachtet. In der heutigen Zeit muss jedoch sorgsam überlegt werden, wie weit die Abschirmung von Bürgern gehen soll. Observieren und Überwachen könnte unsere demokratische Freiheit so stark beeinträchtigen, dass deren Existenz gefährdet wird und unter den selbst angelegten, abschirmenden Fesseln erstickt. Eine umfassende Sicherheit gegenüber Feinden ist aber auch so nicht möglich. Sollten wir nicht in der Lage sein, weisem Denken zum Durchbruch zu verhelfen, sind wir zuletzt so abgeschirmt und eingepackt wie die Bäume in Riehen und keiner befreit uns dann mehr davon. Eine andere, nachhaltige Lösung ist zu suchen.
Trotz seiner körperlichen Schwäche, bedingt durch das hohe Alter, wies der verstorbene Papst Johannes Paul II. eine feine, leuchtende Ausstrahlung auf. Sie zeigt einen sehr hohen Wert an geistigem Potenzial, dem göttliche Geist der Liebe, der überall in der Natur vorkommt. Er ist in den heiligen Büchern als Gott in uns bezeichnet, für den Naturwissenschaftler immer noch unbewiesen, von der Künstlerin Susan Csomor, aus innerem Erleben, als Lichterscheinung dargestellt. Es ist die Essenz der Liebe, die zur Weisheit unabdingbar ist. Entgegen dem immer noch sehr dogmatischen Denken seiner Kirche, hat Papst Johannes Paul II. den Krieg zur Überwindung religiöser Gegensätzen öffentlich abgelehnt und sich entschuldigt, für das von seinen Vorgängern geschaffene Unrecht durch Kriege und die auf den Scheiterhaufen fundamentalistischen Denkens umgekommenen Weisen. Er sammelte alle Konfessionen zu gemeinsamem Gebet, was vielen fundamentalistisch denkenden Religionsvertreter gar nicht behagte. Doch der verstorbene Papst war hier weises Vorbild.
In solchem Überwinden jeglichen Fundamentalismus müsste der Ansatz zur Bekämpfung des heute wieder aktuellen Terrorismus liegen. Jeder Terrorist kämpft für eine anerzogene Überzeugung und eine ihm, durch zielgerichtete Schulung, als gerecht erscheinende Sache. Er opfert sich nicht aus Weisheit, sondern aus Fanatismus für eine Sache, die von harten, fundamentalistisch verknöcherten Menschen ausgelegt wurde. Er glaubt fest daran, die Welt und die Lebensbedingungen seiner Brüder und Schwestern verbessern zu können. Der Papst Johannes Paul II. hat mit Hilfe seines im Alter erreichten geistigen Potentials erkannt, dass Gewalt weit von den Erkenntnissen eines abgeklärten, weisen Denkens entfernt ist. Das Liebespotenzial weiser Menschen jeder Glaubensrichtung, jeder Weltanschauung, muss beim Bekämpfen von Fundamentalismus wegweisend werden. Dies führt zur Öffnung gegenüber Andersdenkenden, die durch einen zufälligen Standort und der damit gegebenen Erziehung unterschiedliche Ansichten vertreten. Mit der durch natürliche Auslese hervorgerufenen vielfältigen, aber definierbaren genotypischen Grundstrukturen werden Problemlösungen in unterschiedlichster Art gesucht. Nur wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Sichten, unter Führung der Weisen, an einen Tisch setzen, können nachhaltige Lösungen gefunden werden.
Wie schwer es ist, Fundamentalisten davon zu überzeugen, dass ihr Denken grundsätzlich falsch ist, weil es zerstört und nicht aufbaut, zeigt uns der desolate Zustand weiter Teile der heutigen Welt. Viele ihrer Bewohner glauben sich bestens informiert, naturwissenschaftlich ist die Welt bis ins Kleinste erfasst und trotzdem denken noch zu viele fundamentalistisch wie im Mittelalter. Menschen die jede neue Erkenntnis ablehnen sind überall zu finden, zum Beispiel die konservativen amerikanischen Christen die von der Evolution nichts wissen wollen, oder die im fundamentalistischen Hass gegen die Ungäubigen geschulten und darin verharrenden muslimischen Terroristen im Osten.
Das Denken der Zeit offenbarende Kunst
Weist nicht die moderne Kunst durch ihre Darstellungen auf unser Zeitalter des Zersplitterten, Zertrümmerten, Zerrissenen hin? Moderne Künstler haben mit ihren Darstellungen die Formen überwunden. Es ist wie ein Rausch des Zerplitterten. "Der Rausch der Non-Form" wird eine Ausstellung in Lugano betitelt. Damit werden, so scheint es, die Eindrücke der durch eine riesige Flut von Informationen desinformierten Welt, ihre existentielle Verlorenheit und Tragik angegangen und verarbeitet. Weise Menschen könnten das Auseinandergefallene wieder zusammenführen, die Erkenntnisse der Naturwissenschaft mit neuen Erkenntnissen der Geisteswissenschaft verbinden und uns so einer neuen Zukunft entgegenführen. Susan Csomor hat mit ihrem Bild "Das Buch", die Erleuchtung des weisen Menschen gezeigt. Dem riesigen Wissen unserer Zeit fehlt zur Weisheit diese Erleuchtung, die Innerlichkeit, das Herz, wie Rodin sagt, die Liebe, die sich von dogmatischen Ansichten jeglicher Art befreit. Künstler und Wissenschaftler vieler Richtungen machen uns auf mögliche Wege aufmerksam. Ihre Werke müssten möglichst undogmatisch betrachtet werden.

Literaturhinweis

  • August Rodin, "Die Bürger von Calais - Werk und Wirken", Katalog zur Ausstellung,
    Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, November 1997 - März 1998, Gerd Hatje
  • Ionel Jianou, "Rodin", ARTET, Edition D’Arte, Paris 1971
  • Paul Gsell, "Auguste Rodin, Die Kunst", Diogenes, Zürich, 1979
  • Otfried Höffe, " Demokratie im Zeitalter der Globalisierung" ,
    C.H. BECK, München, 1999
  • Amandus Kupfer, "Grundlagen der Menschenkenntnis" Band I und II, PPV, D-90596
    Schwanstetten.
  • Bernulf Kanitscheider, "Auf der Suche nach dem Sinn", inseltaschenbuch, Frankfurt
    am Main und Leipzig
  • Ervin Laszlo, "Das dritte Jahrtausend", suhrkamptaschenbuch, Frankfurt am Main
  • Gerhard Roth, "Das Gehirn und seine Wirklichkeit", suhrkamptaschenbuch,
    Frankfurt am Main.
  • Paul Swiridoff, "Gesichter einer Epoche", Belser, Stuttgart, Zürich
    Ralf Dahrendorf, "Versuchungen der Unfreiheit" CH Beck, München


Lukas F. Simon
Gestalter von konfessionell neutralen Trauerfeiern
Tel. 061 813 96 05, f.l.simon@bluewin.ch

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